Wer aufmerksam ist, findet viele Spuren.
Michelstadt: Am Haus Erbacher Straße 12 befindet sich eine
Steintafel: „In diesem Hause wohnte der Menschenfreund S.L. Wormser. Gewidmet von seiner Vaterstadt 1910“. Seckel Löb Wormser war ein aufgeweckter Junge, gelehriger Schüler, hochgebildet und den Menschen zugetan. Er war zuerst Lehrer, dann auch Rabbiner, er war als Arzt tätig und schaffte eine als Wunder angesehene Heilung. Er wurde 76 Jahre alt und sein Name war in ganz Deutschland bekannt, nicht nur bei jüdischen Einwohnern. Die ehrendeTafel am Haus wurde 1938 abgenommen, jedoch 1947 erneuert.
Steinfurt bei Sinsheim (Baden): Am Rande des Dorfkernes steht der aus roten und gelben Klinkern 1894 errichtete Bau der Synagoge. Im Inneren befindet sich die zwar etwas beschädigte, jedoch noch insgesamt vollständig erhaltene Ausmalung der Erbauungszeit, dominierend ein helles Blau. An der Seite findet sich eine spätere Zutat, so wie wir es auch aus manchen evangelischen Kirchen oder Vereinshäusern kennen: Das ehrende Andenken der Gemeindeglieder, die im 1. Weltkrieg gefallen sind drei Namen stehen dort.
Worms: Zwischen Dom und Eisenbahn ist der „Heilige Sand“, der jüdische Friedhof, der vor fast eintausend Jahren angelegt wurde. Die letzte Beerdigung fand hier 1939 statt. Das Grab mit den wohl meisten Besuchern, nämlich von Juden aus der ganzen Welt, ist das eines sehr, sehr bedeutenden Gelehrten, der aus Worms stammt, jedoch lange Zeit in Rothenburg ob der Tauber wirkte und lehrte: Rabbi Meir ben Baruch (um 1215- 1293)
Langstadt: Eine Theatergruppe in Trachten auf einer alten Photographie aus den 1920er Jahren. Aufgeführt wurde „Die Bärbel gibt die Enten auf“, ganz offensichtlich eine Komödie. Komisch bereits der Name der Theatergruppe: „Die Eiskalten“. Mittendrin Isidor Lichtenstein, Langstädter des Jahresgangs 1900. Die Gruppe löste sich vor der „Gleichschaltung“ der Vereine 1933 auf. (Siehe Buch „750 Jahre Langstadt“, Seite 183)
Auf dem Flohmarkt (oder im Internet): Hier gibt es auch alte Ansichtskarten zu finden. Besonders spannend sind die ganz alten: Gründerzeithäuser, um 1900 noch ganz neu mit Passanten-Buben im damals beliebten Matrosenanzug. Und dann: Eine Karte von Schlüchtern mit Kirche und Synagoge oder eine von Rohrbach bei Büdingen mit drei Bildern eines zeigt die „Warenhandlung von Juda Eulau“ oder eine Straßenansicht von Mümling-Grumbach / Odenwald mit Verlagsangabe „Moses Kahn“.
Daheim in der Wohnung: Bei vielen gibt es Schallplatten und CDs mit alten Schlagern aus den 20er, 30er und 40er Jahren; diese heißen z.B. „Goldene Erinnerungen“ oder „Tonfilmschlager“. Da singen dann Willy Fritsch, Marika Rökk, Heinz Rühmann und Zarah Leander aber auch die Comedian Harmonists, Richard Tauber und Joseph Schmidt. Bei den Comedian Harmonists sangen auch jüdische Männer mit die Gruppe bekam Auftrittsverbot in Deutschland nach 1933, reiste dann noch einige Jahre durch das europäische Ausland. Richard Tauber starb verarmt in Berlin, bevor die Vernichtungswelle anrollte. Der Tenor Joseph Schmidt, ein Mann von kleinem Wuchs und enormer Stimme, flüchtete erst nach Österreich und nach dem „Anschluss“ (Einmarsch) weiter in die Schweiz starb wegen fehlender ärztlicher Versorgung in einem Flüchtlingsheim.
Die Reichspogromnacht war der Auftakt zur systematischen Auslöschung der Juden in Deutschland und den besetzten Gebieten. Doch: Wer aufmerksam ist, findet immer wieder Spuren. Jüdische Menschen haben Deutschland über Jahrhunderte mitgeprägt, waren Teil des Ganzen. Manche waren bedeutende Persönlichkeiten, Industrielle, Mäzene, Stifter, Stars, örtliche Honoratioren, Ärzte, Juristen, Lehrer, Rabbiner. Andere waren kleine Leute, Arbeiter, Krämer. In Deutschland waren sie vor der Nazizeit trotz mancher Neider in aller Regel gut integriert und begriffen sich selbst als jüdische Deutsche. Die meisten waren, so wie die Christen, nationalbewusst und brachten sich in die Gesellschaft ein. Sie waren Soldaten in Kriegen, Vereinsmitglieder, Sportler, Sänger. Erst Jahrzehnte nach der systematischen Demütigung und Vernichtung hat man sich entschlossen, dieses dunkle Kapitel wirklich aufzuarbeiten und die jüdischen Spuren sichtbarer zu machen. Synagogen wurden renoviert, Gedenktafeln enthüllt, Stolpersteine verlegt und in Büchern vieles zusammengetragen. Auch endlich in Langstadt.
Verlegung Stolpersteine in Langstadt 2013
Ich persönlich empfinde es immer wieder als Verlust, dass es in Langstadt keine jüdischen Mitbürger/innen mehr gib. Ja, dass sie in unserer Gesellschaft so gar nicht mehr präsent sind. Sie waren es doch so viele Jahrhunderte! Mir fehlen sie, die jüdischen Deutschen. In manche Städte sind zwischenzeitlich jüdische Familien aus Osteuropa zugewandert, doch da ist noch dieser Bruch, den uns die Nationalsozialisten eingebrockt haben. Würde ich als Jude nach Deutschland einwandern?
Die Grausamkeit und Brutalität des Nationalsozialismus ist für mich immer wieder erschütternd, ja schmerzhaft. Unfassbar diese systematische Vernichtung der Juden, das Leid vieler Millionen Menschen! Der Holocaust wird mir sicher noch oft die Tränen in die Augen treiben.
Frank Ludwig Diehl